Das architektonische werk
von Le Corbusier im welterbe

Indien

Einfluss des architektonischen Werks von Le Corbusier in den am Welterbe beteiligten Staaten

Der internationale Einfluss des architektonischen Werks von Le Corbusier ist einzigartig, nicht nur in den elf Ländern, in denen er Bauten errichtete, sondern ebenso dort, wo er Planungen durchführte, und weltweit vor allem durch die Wirkung seiner Schriften und Vorträge. Es wäre ein vergebliches Unterfangen, wollte man darüber ein vollständiges Bild zeichnen.

Wir beschränken uns hier deshalb darauf, den Einfluss in jenen Ländern darzustellen, die an diesem Welterbeantrag mitgewirkt haben. Festzuhalten ist jedoch, dass der Einfluss dieses Werks in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im ganzen Architekturgeschehen spürbar ist, sowohl in der Art zu bauen als auch in den Veränderungen des Architektenberufs und dessen Internationalisierung.

Indien

Einzig in Indien erhielt Le Corbusier die Gelegenheit, seine städtebaulichen Ideen in die Tat umzusetzen. Doch rührt sein Einfluss in diesem Land nicht nur von der Realisierung seines Plans für Chandigarh her, sondern auch von einer Reihe herausragender Bauten, zu denen die Monumentalbauten des Kapitols in der Hauptstadt des Punjab sowie das Haus der Baumwollspinnerei (Mill Owners‘ Association Building) und die Villen in Ahmedabad im Bundeststaat Gujarat gehören.

Die Berufung Le Corbusiers, den Plan für die neue Stadt Chandigarh zu entwerfen, fiel in eine Zeit, als sich Indien von seinem langen und harten Kampf für seine Freiheit erholte und sich seiner Identität und Stellung im Kreis der entwickelten Nationen versichern wollte.

Nach der Unabhängigkeit gab es zwei unterschiedliche Strömungen bei der Frage, wie sich die indische Architektur weiterentwickeln sollte. Ein Teil der Gesellschaft, der das Prestige des alten Indiens wieder aufleben lassen wollte, bekämpfte die Vertreter des Fortschritts wie Jawaharlal Nehru (1), die sich für die Modernisierung des Landes einsetzten. Angesichts dieser Auseinandersetzung zwischen Tradition und Modernität, wurde die Planung von Chandigarh durch Le Corbusier zu einem entscheidenden Schritt auf dem Weg zur modernen Architektur in Indien. Chandigarh „hat Indien aus seiner Lähmung geführt“ (2) und ermöglichte es, den Streit zwischen „Traditionalisten“ und Anhängern der Moderne endgültig zu beenden.

Nach dem Willen Nehrus sollte Chandigarh „eine neuartige Stadt sein, ein Symbol für Indiens Freiheit, ohne die Fesseln vergangener Traditionen, sowie Ausdruck des festen Glaubens der Nation an die Zukunft.“ Dies fand greifbaren Ausdruck in den wegweisenden Werken Le Corbusiers, die ein einzigartiges Erbe der Moderne in Indien und in der ganzen Welt darstellen.

Die Stadt Chandigarh war das erste Beispiel einer modernen und ganzheitlich geplanten Stadt in Indien. Im Städtebau wurden Leitlinien umgesetzt wie die Hierarchisierung der Verkehrswege, die Bildung von nachbarschaftlich organisierten Wohnsektoren, die Einbeziehung von Landschafts- und Grünplanung und die Ausweisung von Fußgängerzonen. Damit ging die Planung weit über frühere fragmentarische Ansätze hinaus und vereinigte all diese Komponenten in einem beispiellosen Modell einer modernen Stadt. Gemäß den vier Hauptanliegen von Le Corbusier sollte sie ein bequemes und rationelles Leben ermöglichen, Arbeitsplätze und Verkehrswege bereitstellen sowie körperliche und geisitige Bedürfnisse befriedigen.

Daher ist Chandigarh keine gewöhnliche Stadt, vielmehr symbolisiert sie die Idee von Modernität. Sie ebnete den Weg zur Erneuerung auf mehreren Ebenen: der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen. Chandigarh steht für die Bestrebungen Nehrus für einen modernen und laizistischen Staat und sollte zum Bezugspunkt modernen Städtebaus in Indien werden. Auch Bhubaneswar und Gandhinagar, beides Hauptstädte indischer Bundesstaaten, sind zutiefst geprägt von den Prinzipien Le Corbusiers, wonach sich die städtebauliche Konzeption an wissenschaftlichem Rationalismus, Effizienz und sozialem Fortschritt ausrichten soll. Durchweg spielt in diesen Städten Beton für die Architektur monumentaler öffentlicher Bauten eine wichtige Rolle.

Das architektonische Werk Le Corbusiers in Indien, sowohl in Chandigarh als auch in Ahmedabad, wurde nicht für das damalige Indien geschaffen, vielmehr für das Land, das es einmal werden wollte. Fast alle indischen Architekten der ersten Generation nach der Unabhängigkeit, so Achyut Kanvinde, Balkrishna Doshi und Charles Correa waren stark geprägt vom einzigartigen architektonischen Vokabular Le Corbusiers und seiner fortschrittlichen Vision einer Umwelt, die eine moderne Gesellschaft erschaffen kann. Seine Arbeit legte die Grundsätze der Modernen Bewegung fest, welche den Abschied von der Vergangenheit und den Eintritt in eine neue Zeit bedeuteten, sie war Vorbote einer neuen Ästhetik in der indischen Architektur.

Paradoxerweise ist das Ergebnis ein kontextbezogenes Werk, das gleichwohl zeitlos und von grenzenloser Wirkung erscheint. Die daraus entstehende Ästhetik, abgeleitet aus einer universalistischen Haltung zu Raum, Form, Licht und Farbe, besitzt auch in heutiger Zeit nach wie vor Gültigkeit. So wird es verständlich, dass sich Generationen indischer Architekten immer noch von den Theorien und Bauwerken Le Corbusiers inspirieren lassen.

Mit der Unabhängigkeit schwand der Einfluss der Kolonialzeit, was sich in neuen Verwaltungsstrukturen der Regierung auswirkte. Es entstanden aber auch Banken, Industriegebäude, Kinos und Klubs sowie öffentliche Gebäude, es gab also viele neue Bauaufgaben. Sie erforderten ihre eigene Architektursprache und sollten einer Gesellschaft im Wandel und mit neuen kulturellen Zielen gerecht werden. Durch eine beispiellose Anwendung der Prinzipien Le Corbusiers und der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM), begleitet von einer aufstrebenden Demokratiebewegung, entstanden Prototypen, welche bis heute Architektur und Städtebau in Indien tiefgreifend prägen.

Der Regierungsbezirk in Chandigarh, das Kapitol, ist ein einzigartiges und außergewöhnliches Beispiel dafür, welchen Beitrag Le Corbusier zur Gestaltung neuartiger Typen von öffentlichen Bauten geleistet hat. Es stellt eine der monumentalsten Kompositionen des modernen Städtebaus dar und ist, hervorgegangen aus einem besonderen geopolitischen und kulturellen Kontext, ein wesentlicher Bestandteil des Erbes von Le Corbusier. Die drei Gebäude des Kapitols werden als das gelungenste plastische Ensemble im Werk des als Architekt, Künstler und Bildhauer tätigen Le Corbusier betrachtet. Seine ästhetische Konzeption leitete sich aus einer einzigartigen Synthese puristischer und brutalistischer Gestaltungselemente ab. Sie nahm plastische und landschaftliche Bezüge auf und ermöglichte so einen gelungenen Gesamtplan.

Der Regierungsbezirk wird ganz wesentlich vom Sichtbeton geprägt. So entstand eines der beeindruckendsten Beispiele monumentaler Architekur, die als Symbol nationaler Freiheit stehen sollte. Indem Masse und Plastizität der Baukörper in den Fokus gerückt wurden, entstand eine einzigartige Ästhetik, welche die Grenzen zwischen Purismus und Brutalismus aufhebt. Primärfarben auf den Hauptportalen und den Wandteppichen, an Pylonen und Einrichtungen aus Holz bilden einen Ausgleich zum monochromen und brutalistisch gestalteten Beton.

Die Bauwerke Le Corbusiers in Indien, vor allem das Kapitol in Chandigarh ermöglichten einen deutlichen Innovationsschub im Städtebau, in architektonischer Theorie und Praxis, bei Baumaterialien und Bautechniken. Außerdem machen sie deutlich, dass man auch unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen und praktisch ohne technische Hilfsmittel moderne Architektur verwirklichen und widrige klimatische Bedingungen bewältigen kann. Dies förderte die Verbreitung von Bauten in Indien, die nach diesen neuen Prinzipien geplant wurden.

Die hohe Qualität von Le Corbusiers Bauten hinsichtlich der Gestaltung von Formen und Details sowie ihrer Bauausführung trug dazu bei, der indischen Architektur moderne Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dies spielte eine wichtige Rolle bei der Umwälzung lokaler Bautraditionen und ebnete den Weg für einen massiven Einsatz von Beton bei Neubauten.

Zum Schutz vor Sonneneinstrahlung setzte Le Corbusier häufig Sonnenblenden (brise-soleil) und zweischalige Dächer ein. Er richtete die Baukörper gewissenhaft aus und sorgte durch die Gestaltung ihrer Wandöffnungen für eine natürliche Belüftung. Ebenso wurden Dachterrassen und flache Wasserbecken angelegt, die durch Reflexion vor Sonneneinstrahlung schützen und zur Rückgewinnung von Regenwasser dienen. All dies waren technische Mittel auf dem Weg zu einer nachhaltigen Architektur. In dieser Hinsicht kündigten sich in den Bauten Le Corbusiers heutige Grundsätze einer „passiven“ Architektur bereits an. Indem er die Abhängigkeit von fossilen Enegieträgern verringerte, schonte er ohnehin begrenzte Ressourcen und senkte zukünftige laufende Betriebskosten. Gleichzeitig bieten seine Bauten einen guten thermischen Komfort.

Die Gestaltung komplexer, auf einfachen Grundstrukturen basierender Bauformen, die trotz begrenzter Ausführungszeiten, Finanzen und handwerklicher Fähigkeiten verwirklicht werden konnten, stellte ein bedeutsames Ereignis in der Entwicklung architektonischer Möglichkeiten dar, nicht nur für Chandigarh und Indien, sondern darüber hinaus für die ganze Welt. Die dünnwandige hyperbolische Schale, die den riesigen stützenfreien Rundsaal im Parlamentsgebäude überdeckt, war ein exemplarischer technischer Fortschritt und machte das ganze plastische und konstruktive Potenzial des Stahlbetons deutlich.

Le Corbusier hinterließ in Indiens Architektur und Stadtplanung einen bleibenden Eindruck. Er ermöglichte es diesem Entwicklungsland, sich auf eine Stufe zu stellen mit den Wegbereitern moderner Architektur und modernen Städtebaus auf der ganzen Welt.

(1) Nehru war der erste Premierminister des unabhängigen Indiens und in dieser Position Initiator der neuen Stadt Chandigarh, der Industrialisierung Indiens und der Demokratisierung des Landes.
(2) Patwant Singh, indischer Architekturkritiker
Indien Le Corbusier und Jawaharlal Nehru (1889–1964), Premierminister Indiens von 1947 bis 1964, bei der Grundsteinlegung für Chandigarh
Indien Le Corbusier und Balkrishna Doshi in Ahmedabad
Foto: Vastu Shilpa Foundation
Indien Haus der Baumwollspinnerei (Mill Owners‘ Association Building), Ahmedabad
Foto: Olivier-Martin Gambier, 2014