Das architektonische werk
von Le Corbusier im welterbe

Belgien

Einfluss des architektonischen Werks von Le Corbusier in den am Welterbe beteiligten Staaten

Der internationale Einfluss des architektonischen Werks von Le Corbusier ist einzigartig, nicht nur in den elf Ländern, in denen er Bauten errichtete, sondern ebenso dort, wo er Planungen durchführte, und weltweit vor allem durch die Wirkung seiner Schriften und Vorträge. Es wäre ein vergebliches Unterfangen, wollte man darüber ein vollständiges Bild zeichnen.

Wir beschränken uns hier deshalb darauf, den Einfluss in jenen Ländern darzustellen, die an diesem Welterbeantrag mitgewirkt haben. Festzuhalten ist jedoch, dass der Einfluss dieses Werks in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im ganzen Architekturgeschehen spürbar ist, sowohl in der Art zu bauen als auch in den Veränderungen des Architektenberufs und dessen Internationalisierung.

Belgien

Obwohl Le Corbusier in Belgien nur eine sehr begrenzte Zahl von Bauten errichtet hat, von denen heute nur noch ein einziges besteht, ist der Einfluss seines Werks auf die belgische Architektur des 20. Jahrhunderts unbestritten.

Dieser Einfluss ist vor allem auf seine Beiträge und Veröffentlichungen und seit 1920 in erster Linie auf die Zeitschrift L’Esprit Nouveau zurückzuführen. Zu den ersten Abonnenten gehörten neben anderen die belgischen Maler René Magritte und René Guiette. Zwar wurde L’Esprit Nouveau von Le Corbusier und Amédée Ozenfant gegründet, aber auch der in Paris lebende belgische Dichter Paul Dermée wirkte mit und ihm ist insbesondere der Zeitschriftentitel zu verdanken. Allerdings war die Mitarbeit von Dermée nur kurz, nach Meinungsverschiedenheiten verließ er die Redaktion Ende 1920 wieder.

Auch die Veröffentlichung von Vers une architecture 1923 blieb in der avantgardistischen Presse nicht unbemerkt und erreichte ihr Zielpublikum. Die Veröffentlichungen Le Corbusiers waren die einzigen von einem Architekten verfassten Bücher, für die mit Beilagen in belgischen Zeitschriften geworben wurde. Sein Einfluss zeigte sich auch an den zahlreichen Vorträgen, zu denen er zwischen 1926 und 1933 nach Brüssel und Antwerpen eingeladen wurde. In deren Zusammenhang wurde er ab den 1920er Jahren auch von belgischen Radiosendern um Interviews gebeten.

Auf der Internationalen Ausstellung für moderne dekorative Kunst und Kunstgewerbe, (Exposition internationale des Arts décoratifs et industriels modernes), die 1925 in Paris stattfand, wurde vor allem der Pavillon de l’Esprit Nouveau zum Anziehungspunkt für moderne belgische Künstler und Architekten, die in die französische Hauptstadt reisten. Neben anderen waren das Gaston Eysselinck, Léon Stynen, aber auch René Guiette. Kurz darauf beauftragte Guiette den jungen Le Corbusier, in einem neuen Wohnquartier Antwerpens für ihn ein Wohnhaus mit Atelier zu errichten. Er gab sich damals der Illusion hin, dass sein Haus dazu beitragen würde, aus diesem Quartier eine wirkliche Demonstration moderner Architektur zu machen. Doch entwickelten sich die Dinge anders. Seit dem Abriss des Pavillon Philips von 1958 bleibt das Haus Guiette das einzige Gebäude Le Corbusiers in Belgien und das erste außerhalb Frankreichs, wenn man von seinem Heimatland, der Schweiz, absieht.

Das Haus Guiette gehört zur Serie „puristischer“ Wohngebäude, bei denen Le Corbusier seine Fünf Punkte zu einer neuen Architektur anwendete, die bei den belgischen Architekten der Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre großes Interesse hervorriefen. So wendeten sich Louis-Herman De Koninck, Huib Hoste Stynen und die Gruppe Equerre den Prinzipien Le Corbusiers zu. Gaston Eysselinck entwarf zwischen 1930 und 1936 einige „Wohnmaschinen“, während sich Paul-Amaury Michel mit dem Citrohan-Typus auseinandersetzte. Zu dieser Zeit wurde in La Cambre auch das Institut Supérieur des Arts Décoratifs (Hochschule für Kunstgewerbe) gegründet. Unter der Leitung von Henry van de Velde und mit vielen Vertretern der Moderne als Lehrkräfte bot diese Schule eine Alternative zur klassischen, sogenannten akademischen Ausbildung, wie sie bis dahin in Belgien vorherrschend war.

Le Corbusier unterhielt persönliche Beziehungen zu zahlreichen belgischen Kollegen, wie Victor Bourgeois und Huib Hoste, beide Gründungsmitglieder der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) im Jahr 1928. Diese Architekten und weitere belgische Künstler waren wichtige Mittler bei der Verbreitung des Werks von Le Corbusier in Belgien.

Durch die CIAM drangen die Ideen Le Corbusiers in die architektonischen und städtebaulichen Debatten des Landes vor. So fand bereits der dritte Kongress der CIAM 1932 in Brüssel statt, im von Victor Horta errichteten Palast der Schönen Künste. Der Kongress befasste sich mit rationellen Bebauungsweisen.

In den 1930er Jahren beteiligte sich Le Corbusier am Wettbewerb für die städtebauliche Entwicklung des linken Scheldeufers in Antwerpen, wo ein neues Wohnquartier für über 100.000 Bewohner vorgesehen war (die historische Stadt hatte sich ausschließlich am rechten Ufer entwickelt). Paul Otlet, Initiator des Mundaneum-Projekts, ermunterte Le Corbusier zur Teilnahme am Projekt Linkeroever (Linkes Scheldeufer) und regte eine Partnerschaft mit lokalen Architekten an, insbesondere mit Huib Hoste und Fe Loquet. Der Wettbewerb wurde zu einem durchschlagenden Erfolg mit 300 Beiträgen aus aller Welt. Der Entwurf von Le Corbusier, Hoste, Loquet und Otlet war ganz nach dem Vorbild der Ville radieuse gestaltet, aber letztlich endete der Wettbewerb ohne Preisträger und der Stadtarchitekt und der Leitende Tiefbauingenieur wurden beauftragt, einen neuen Plan für das linke Scheldeufer zu entwickeln. Dieser im April 1934 beschlossene Plan traf bei Le Corbusier auf heftige Kritik, welche er 1936 wiederholte und präzisierte. Möglicherweise trug dies nicht unwesentlich zu Veränderungen des Plans bei. Le Corbusier und Hoste reagierten mit einem grundlegend überarbeiteten Plan, der sich an den offiziellen anlehnte. Obwohl nun realitätsnäher und pragmatischer, nahm der neue Plan Le Corbusiers keinen Einfluss auf die spätere Entwicklung am linken Ufer.

Trotz des Scheiterns seines Linkeroever-Projekts wuchs der Einfluss Le Corbusiers auf die belgische Architektur und Stadtentwicklung vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Entwürfe wurden von einer neuen Generation von Dozenten und Professoren aufgegriffen und als Planungsgrundlagen vorgestellt. Diese moderne Architektur fügte sich sehr gut in den Fortschrittsglauben der 1950er und 1960er Jahre ein, wie er bei der Weltausstellung 1958 in Brüssel zum Ausdruck kam. Bei dieser ersten Weltausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg überboten sich die Teilnehmer beim Entwurf ihrer Pavillons an Erfindungsgabe und Einfallsreichtum. Besondere Aufmerksamkeit erzielte der von Le Corbusier und Iannis Xenakis entworfene Pavillon für die Firma Philips. Er wurde, wie die meisten anderen Gebäude, nach der Ausstellung wieder abgebaut.

Für den an der Hochschule La Cambre lehrenden Pierre Puttemans zeigt sich der Einfluss des Werks von Le Corbusier auf Theorie und Praxis der belgischen Architektur der Jahre 1945–1970 in mehrfacher Hinsicht:

– die Imitation von Schlüsselwerken;

– die Interpretation und Weiterentwicklung der architektonischen und städtebaulichen Studien Le Corbusiers, besonders erkennbar im Werk von Willy Van der Meeren oder den kollektiven Bauten von René Braem;

– eine gewisse Banalisierung seiner Ideen und Ästhetik aus wirtschaftlichen und populistischen Gründen;

– die Suche nach einem Kompromiss seitens einiger Architekten „der ersten Stunde“ wie Victor Bourgeois, Louis-Herman De Koninck, Leon Stynen;

– die Ausbreitung und Durchsetzung des Funktionalismus und einer wesentlich von Le Corbusier und anderen wichtgen Protagonisten zeitgenössischer Architektur beeinflussten modernen Ästhetik;

– der Einfluss Le Corbusiers auf den belgischen Brutalismus;

– der wichtige Beitrag zum weltanschaulichen Gesamtbild der Zwischenkriegszeit.

Nach Ansicht von René Braem, einem ehemaligen Praktikanten bei Le Corbusier und Hauptvertreter der modernen Architektur in Belgien, war Le Corbusier der erste, der die technologischen Möglichkeiten durch Beton und Stahl erkannt hatte. Er sah in Le Corbusier den genialen Künstler, dem ein bedeutender und dauerhafter Platz in der Architekturgeschichte zusteht.

Belgien Pavillon de l’Esprit Nouveau, Paris, Exposition internationale des Arts décoratifs et industriels modernes, 1925. Le Corbusier präsentierte dort den Grundbaustein eines Villenblocks in Originalgröße sowie seine Großstadtvision Plan Voisin.
Belgien Pavillon Philips, Brüssel 1958 (abgerissen)