Bereits 1944 wurde Le Corbusier gebeten, den Vorsitz in der Städtebaukommission der Nationalen Architektenfront (Front national des architectes) zu übernehmen, einer aus der Résistance hervorgegangenen Organisation. 1945 erhielt er den Auftrag, in Marseille eine Unité d’habitation grandeur conforme zu planen. Es handelte sich um ein Experimentalgebäude, das ihm ermöglichen sollte, die Tragfähigkeit seiner Wohnkonzepte sowohl in programmatischer als auch räumlicher und technischer Hinsicht zu demonstrieren. Dazu gründete er zusammen mit dem Ingenieur Vladimir Bodiansky das Atelier des bâtisseurs (ATBAT).
BIOGRAFIE
Die 1952 fertiggestellte Unité d’habitation in Marseille leitete sich aus früheren Überlegungen zum Projekt Immeubles-villas ab (1923–1925). Gemeinschaftseinrichtungen ergänzten die Wohnungen: eine im Gebäude liegende Ladenstraße, Schul- und Gymnastikräume, eine vielfältig nutzbare Dachterrasse etc. Als Cité radieuse bildete das Gebäude in Marseille den Prototyp für eine serielle Bauproduktion. In der Folge wurden vier weitere Unités d’habitation errichtet, davon drei in Frankreich, in Rezé-les-Nantes, (1948–1955), Briey-en-Forêt, (1956–1963) und in Firminy (1959–1967), sowie eine in Deutschland in Berlin-Charlottenburg (1956–1958).
Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg ernannte das zuständige Ministerium (Ministère de la Reconstruction et de l’Urbanisme, M.R.U) Le Corbusier zum leitenden Architekten und Stadtplaner von La Rochelle-La Pallice (1945–1947). Aber sein langfristig angelegter Plan stieß auf Widerstand bei Einwohnern und lokalen Behörden, die sich einen schnellen Wiederaufbau des wirtschaftlichen Lebens erhofften. Obwohl ohne jede amtliche Funktion entwarf Le Corbusier für das im Osten Frankreichs gelegene Saint-Dié einen Plan ganz im Geist der Ville radieuse (1945–1946). Der im Krieg völlig zerstörte Ort schien die Voraussetzungen für eine grundlegende Neuplanung zu bieten. Doch wurden weder diese Pläne noch der Erweiterungsplan für Saint-Gaudens (1943–1946) tatsächlich umgesetzt.
„In zwanzig Büchern und drei Magazinen habe ich wiederholt die Wohnung ins Zentrum architektonischen und städtebaulichen Tuns gerückt. Eine ausgesprochen revolutionäre Haltung.“
Le Corbusier, Gespräch mit Architekturstudenten
Foto: Jeet Malhotra
Erst im indischen Chandigarh erhielt Le Corbusier von 1950 bis zu seinem Tod 1965 die Gelegenheit, seine Theorien an der Wirklichkeit zu messen. Mit Unterstützung vor Ort von seinem Vetter Pierre Jeanneret und den britischen Architekten Maxwell Fry (1899–1987) und Jane Drew (1911–1996) entwarf er den Stadtplan für die neue Hauptstadt des Punjab und errichtete insbesondere die drei bedeutendsten Gebäude der Stadt: das Oberste Gericht (1952), das Sekretariat (1953) und das Parlamentsgebäude (1955).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Le Corbusier zu vielen Projekten, Vorträgen und Beratungen eingeladen. Darunter litten gelegentlich der Baufortschritt begonnener Bauten und der von André Wogenscky (1916–2004) aufrechterhaltene Bürobetrieb.
1946/47 reiste Le Corbusier in die Vereinigten Staaten. Er leitete dort eine Studie und war an der Standortsuche für den Sitz der UNO beteiligt. Danach entstanden das Haus Curutchet in Argentinien (1949) und das Museum für westliche Kunst in Tokio (1957). Außerdem setzte er seine Arbeit in Chandigarh fort. Im indischen Ahmedabad errichtete er zwei Wohngebäude, die Villa Sarabhai (1951) und die Villa Shodan (1951) sowie das Haus der Baumwollspinnerei (Mill Owners’ Association Building, 1951) und das städtische Museum (1951). Außerdem baute er auf dem Campus der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts, das Carpenter Center for Visual Arts (1961), das sein einziges Bauwerk in Nordamerika blieb. 1962 erhielt er den Auftrag, für Heidi Weber in Zürich einen Ausstellungspavillon zu errichten, der erst nach seinem Tod fertiggestellt wurde. In Frankreich erbaute er, neben den Unités d’habitation, ein Fabrikgebäude in Saint-Dié (1946–1950) und die zwei Häuser Jaoul in Neuilly (1951). Sie leiteten eine neue Architekturströmung ein, die der Historiker Reyner Banham als Brutalismus bezeichnete.
Schnitt
Le Corbusier wurden auch mehrere kirchliche Aufträge anvertraut, die einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung der sakralen Baukunst nach dem Zweiten Weltkrieg leisteten: er errichtete die Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp (1950) sowie das Kloster Sainte-Marie de la Tourette nahe Lyon (1953) und machte einen Vorentwurf für die Kirche Saint-Pierre in Firminy, die erst nach seinem Tod realisiert wurde. Die Kirche liegt im Herzen von Firminy-Vert, einer von Anhängern Le Corbusiers im Geist der Charta von Athen geplanten Erweiterung der alten Bergbaustadt. In der Nähe der Kirche und unweit der erwähnten Unité d’habitation entwarf Le Corbusier außerdem ein Haus der Kultur (1956) und ein Stadion (1956), die zusammen mit der Kirche das neue bürgerschaftiche Zentrum von Firminy-Vert bilden.
Trotz seiner zahlreichen Verpflichtungen erweiterte er auch seine künstlerische Tätigkeit und entwarf Skulpturen, die er seit 1946 mit dem Kunsttischler Joseph Savina herstellte. 1948 gestaltete er erste Vorlagen für Wandteppiche und widmete seine Vormittage bis zu seinem Tod regelmäßig der Malerei. In dieser Zeit entwickelte er auch ein neues, auf den menschlichen Körperproportionen beruhendes Maßsystem, den Modulor. Seit dem Bau der Unité d’habitation in Marseille fanden die Ergebnisse seiner 1945 begonnenen Forschungen Anwendung beim Entwurf und wurden erstmals 1950 veröffentlicht. (11)
Foto: Joseph Savina
Foto: Olivier Martin-Gambier
Vom Tod seiner Frau Yvonne im Jahr 1957 wurde Le Corbusier zutiefst getroffen. Gleichwohl widmete er sich gegen Ende seines Lebens neuen Entwurfsaufgaben. So plante er ein Rechenzentrum für Olivetti in der Nähe von Mailand (1961), ein Kongresszentrum in Straßburg (1962), die französische Botschaft in Brasilia (1964) sowie ein Krankenhaus in Venedig (1964). Le Corbusier starb am 27. August 1965 in Roquebrune-Cap-Martin. Dort hatte er seit 1949 seinen Urlaub verbracht und sich 1952 eine bescheidene Ferienhütte gebaut. Nach einer Staatstrauerfeier im Innenhof des Pariser Louvre wurde er auf dem Friedhof von Roquebrune-Cap-Martin beigesetzt.
Foto: Willy Boesiger